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Gerichtsfälle Journalismus

Ein Diebstahl wie aus einem Bond-Film

In der ABB Semiconductors in Lenzburg gelten höchste Schutzvorschriften. Hier werden Leistungshalbleiter unter strengsten Reinheitsbedingungen hergestellt. Viel sauberer als in einem Operationssaal muss es sein, sonst leidet die Qualität der Teile. Die Mitarbeiter tragen Masken und eine Art Astronautenanzug. Alles ist hoch technologisiert und wird strengstens überwacht.

Trotz Kündigung behielt er seinen Zugangsbadge

Dennoch hat es David (Name geändert) geschafft, über zehn Jahre Ausschussmetall zu entwenden. Nicht irgendein Material, sondern das in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannte Molybdän, ein Nebenprodukt bei der Kupferherstellung. David klaute auch noch weiter, nachdem er Ende 2014 nach 20 Jahren bei der ABB gekündigt hatte. Niemandem war aufgefallen, dass er seinen Zugangsbadge einfach behalten hatte.

«Ich sah das schnelle Geld. Ich dachte, das merkt eh niemand.»

Wie brisant der Prozess war, zeigt die Tatsache, dass nicht nur die leitende Staatsanwältin Barbara Loppacher, sondern auch eine zweiköpfige Vertretung der ABB vor Gericht erschien. Das Verbrechen könnte Gegenstand eines James-Bond-Filmes sein: Der Angeklagte (51), ein Lenzburger, ist nicht selber auf die Idee gekommen, das wertvolle Metall zu stehlen.

Ein Deutscher, wir nennen ihn Rainer, hat ihn gebeten, für ihn das Molybdän zu stehlen – natürlich gegen Bezahlung. Das kam dem Junggesellen zupass, denn er litt wegen seines gehobenen Lebensstils unter permanentem Geldmangel. «Ich sah das schnelle Geld», erklärte David mit brüchiger Stimme vor dem Gesamtgericht. «Ich dachte, das merkt eh niemand.» Als langjähriger Mitarbeiter der ABB hatte er Zugang zum Lager.

Insgesamt 12 Tonnen Metall geklaut

Zwischen Juni 2005 und Juni 2015 kam Rainer monatlich zu Besuch. David verkaufte ihm jedes Mal 100 Kilogramm Alteisen, Aluminium, vor allem aber Molybdän in Form von Ausschussscheiben – zu einem Preis zwischen 800 und 1200 Franken pro Ladung. Die Diebstähle summierten sich über zehn Jahre auf 12 Tonnen und einen Verkaufsbetrag von 100’000 Franken.

Ende 2014 kündigte David bei der ABB. Aus schlechtem Gewissen? Wohl kaum, denn David behielt seinen Badge. Damit verschaffte er sich weitere 20 Male Zutritt zum Areal der ABB und stahl nun auch neue Molybdän-Scheiben. Diese verkaufte er zum selben Preis an Rainer wie das Ausschussmaterial – ein Fachmann war David nicht. «Der Beschuldigte hatte keine Ahnung vom handelsüblichen Preis von Molybdän», hiess es in der Anklageschrift.

Späte Reue

«Ich würde meine Taten gerne rückgängig machen», beteuerte David vor dem Gesamtgericht, sichtlich aufgeregt und den Tränen nah. Angeklagt war er nicht nur wegen gewerbsmässigem Diebstahl und Hausfriedensbruch, sondern auch wegen diverser anderer, kleinerer Delikte. Etwa Verletzung der Meldepflicht. Die Polizei hatte bei einer Hausdurchsuchung in Davids Wohnung drei Langfeuerwaffen gefunden. Die Waffen hatte er von seinem Grossvater geerbt, aber nie einen Waffenschein beantragt.

Aktuell ist David arbeitslos, abgesehen von Gelegenheitsjobs, welche ihm von Kollegen zugehalten werden. Seit Anfang 2017 ist David ausgesteuert, bezieht aber keine Sozialhilfe. «Zum Glück habe ich ein intaktes Umfeld, das mich auch finanziell unterstützt.» So könne er seine Rechnungen zahlen. Dass David am Verhandlungstag seinen 51. Geburtstag feierte, sah sein Verteidiger als positives Zeichen: «Es soll die Chance sein, im neuen Lebensjahr neu anzufangen.»

Er muss sechs Monate absitzen

Als Zivilklägerin forderte die ABB einen Schadenersatz von 25’000 Franken. Eine moderate Forderung angesichts der 100’000 Franken, die David kassiert hatte. Der Angeklagte war sich dessen bewusst und sagte im letzten Wort: «Ich möchte meinen früheren Arbeitgebern danken, dass sie mich mit einem dunkelblauen Auge davonkommen lassen.»

Gerichtspräsidentin Eva Lüscher eröffnete das Urteil: dreissig Monate Freiheitsstrafe, davon sechs unbedingt plus eine Busse von 900 Franken. Zusätzlich muss David die Verfahrenskosten bezahlen, rund 10’000 Franken. Auch die Zivilforderung der ABB in der Höhe von 25’000 Franken wurde vom Gericht gutgeheissen.

Dieser Bericht ist zuerst bei der Aargauer Zeitung erschienen.

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Journalismus Wissenschaft

Diverse Tierwelt, binärer Mensch? Antworten von einem Biologen

Oft sind es Klischees, die die Geschlechterdebatte dominieren. Welche davon sind purer Mythos, an welchen ist etwas dran? Um dies zu beantworten, ist die Wissenschaft gefragt. Wir haben den Biologen und Anthropologen Tony Weingrill mit fünf Geschlechterklischees konfrontiert:

Wie die Antworten von Tony Weingrill im Video zeigen, sind Geschlechterfragen auch in der Wissenschaft umstritten. Wer sich auf dieses heikle Terrain begibt, findet sich schnell in einem Shitstorm wieder. Dessen ist sich Weingrill, Primatenforscher und biologischer Anthropologe an der Universität Zürich, nur allzu bewusst.

Dennoch wagt er es, sich der grossen Frage zu stellen: Was ist Geschlecht? Weingrill erklärt, was die Biologie zu diesem Thema zu sagen hat.

Inhaltsverzeichnis

Hat die binäre Geschlechtereinteilung eine biologische Grundlage?

Männlich, weiblich, nonbinär, divers: Das sind nur die geläufigsten von einer Vielzahl möglicher Geschlechterkategorien. «Die menschliche Geschlechtsidentität ist wahnsinnig vielfältig», sagt Weingrill. Und fügt an:

«Als Biologe ist es für mich aber schwierig, biologisches und soziales Geschlecht bei Menschen klar voneinander zu trennen.»

Der Primatologe weiss um die Brisanz dieser Aussage. Aber er erklärt: «Mit meinem Hintergrund sehe ich den Menschen in erster Linie als Primaten.» Und bei unseren nächsten Verwandten sei ein soziales Geschlecht – falls vorhanden – viel weniger stark ausgeprägt. Deshalb vermutet Weingrill: «Die Diversität der Geschlechteridentität beim Menschen hat sich wohl kulturell entwickelt.»

Denn was das biologische Geschlecht betrifft, ist für Weingrill klar: «Die binäre Geschlechtereinteilung beim Menschen hat eine klare biologische Grundlage.» Bei allen Primaten gebe es eine klare Einteilung in Männchen und Weibchen. Dies habe sich in der Evolutionsgeschichte so durchgesetzt.

Was «Geschlecht» in der Biologie bedeutet

So erklärt Tony Weingrill, wie «Geschlecht» in der Biologie definiert ist. Eine Definition sei nicht einfach, schickt er voraus, weil es so viele Ebenen von Geschlechtlichkeit gebe. Die klassische Definition oder der «kleinste gemeinsame Nenner» lautet wie folgt: Individuen mit kleineren Geschlechtszellen (Gameten) sind Männchen, Individuen mit grösseren Gameten sind Weibchen.

Diese Definition greift laut Weingrill bei Menschen wie auch den meisten anderen Säugetieren. Wenn es um Tiere mit anderer Geschlechtlichkeit geht, sprechen die Biolog:innen nicht mehr von «Geschlecht», sondern von «Paarungstypen». Die biologische Definition von «Geschlecht» ist also total binär.

Warum Intersexualität aus biologischer Sicht erklärt wird

Weingrill hat dafür auch eine Begründung: «Bei den Primaten kommen intersexuelle Individuen zwar vor, sind aber sehr selten.» Laut Zahlen des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) von 2016 kommen in der Schweiz jährlich rund 40 Kinder auf die Welt, die sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuweisen lassen. Vermutlich seien es aber viel mehr, die erst später als intersexuell diagnostiziert würden, schätzt Weingrill.

Die biologische Geschlechterdefinition ist binär – für etwas dazwischen gibt es keinen Raum.

Aus biologischer Sicht liege die Ursache der Intersexualität entweder in der Verteilung der Geschlechtschromosomen oder aber in einem genetischen Defekt, der die Hormonausschüttung beeinflusse, so Weingrill.

Das bedeute aber nicht, dass Intersexualität etwas Abnormales sei: «Das gab es schon immer und wird es immer geben», so Weingrill. Am Ende komme es auf die kulturelle Bewertung der Intersexualität an.

Wie viel Biologie steckt in der Kultur?

Diese Frage kann Weingrill nicht beantworten. «Diese Frage ist ein Dauerbrenner in der Biologie, insbesondere in der Evolutionsforschung», erklärt er. Es herrsche ein Konsens, dass in der Evolution sowohl Genetik als auch Kultur wichtig sind und miteinander interagieren. Die beiden komplett auseinanderzuhalten, sei aber unmöglich.

Sicher ist für Weingrill nur: «Kulturelles Verhalten hat eine biologische Grundlage, geht aber weit über die Biologie hinaus.» Als Beispiel nennt er das Sozialsystem von Jäger- und Sammler-Gesellschaften, welche egalitär organisiert waren. «Die biologischen Unterschiede gab es damals schon, für die Gesellschaftsordnung spielten sie aber kaum eine Rolle.»

Jäger- und Sammlergesellschaften waren egalitär organisiert. Das Geschlecht spielte in der Gesellschaftsordnung kaum eine Rolle.

Es bleibt die grosse Frage: Wie viel Biologie steckt in der Kultur? Darauf gibt es wohl so viele Antworten wie Forscher:innen.

Und macht sich die Stimme der Biologie bemerkbar, folgt bald der Aufschrei: Achtung, Biologismus! Es sei gut, dass die Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften kritisch auf die Finger schauen, findet Tony Weingrill. «Das ist nötig und spornt uns auch an.»

Lehrmeinung im Wandel: Auch die Naturwissenschaft begreift Geschlecht immer mehr als Spektrum

Obwohl Tony Weingrill in seiner Arbeit eine Brücke schlägt zwischen Geistes- und Naturwissenschaften: Seine Aussagen stossen vielerort auf harsche Kritik. Soziales und biologisches Geschlecht würden zusammengehören, und die Definition von Geschlecht als binär entbehre der wissenschaftlichen Grundlage – Geschlecht sei vielmehr als Spektrum zu verstehen, heisst es immer öfter auch aus naturwissenschaftlichen Kreisen. Vertritt Weingrill also eine veraltete Position, beeinflusst von der klassischen Biologie?

Eine kritische Betrachtung ist jedenfalls immer angebracht, wenn gesellschaftliche Tatsachen mit biologischen Erklärungen gerechtfertigt werden. In der aktuellen Debatte wird oftmals eine Analogie gezogen zwischen der geschlechtlichen Vielfalt im Tierreich und der Diversität der Geschlechteridentitäten beim Menschen. Das hält Tony Weingrill für einen Fehlschluss: «Von der geschlechtlichen Diversität im Tierreich lässt sich nicht auf den Menschen schliessen.»

Machen Sie den Test: Wie viel wissen Sie über die Geschlechterdiversität im Tierreich?

Es ist faszinierend, wie vielfältig die Tierwelt in Bezug auf Geschlechtlichkeit ist. Es gibt fast nichts, das es nicht gibt. Wie gut kennst du dich beim Thema «Geschlecht im Tierreich» aus? Mache den Wissenstest.

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