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Mein Grossvater, der Geheimdienstler

In meiner Erinnerung war «Grossvati» immer ein alter Mann. Ich weiss noch, wie er im Lehnstuhl sass und wie er lachte, ein kurzes, nach innen gekehrtes Lachen. Sonst habe ich nur wenige konkrete Eindrücke von ihm. Zu kurz war die Zeitspanne, die wir miteinander teilten: Es ist, als hätte ich vom Film seines Lebens nur die letzten zehn Minuten gesehen.

Eines Morgens im November 2011 erwachte er nicht mehr aus dem Schlaf. Damals war ich vierzehn Jahre alt. Eigentlich habe ich Heinrich Amstutz nie wirklich gekannt.

Vielleicht haben wir alle ihn nicht gekannt. Mehrere Jahre nach seinem Tod holte uns seine Vergangenheit ein. Eine Vergangenheit, von der die Familie – mit Ausnahme meiner Grossmutter – nichts wusste. Über Jahre hinweg führte Heinrich Amstutz ein Doppelleben.

Deckname «Lord» oder «Henry»

Im Sommer 2018 erschien ein Buch, die Dissertation des Aargauer Historikers Titus Meier. Ein ganzes Kapitel war meinem Grossvater gewidmet. Da stand, Heinrich Amstutz habe während rund fünf Jahren den sogenannten Spezialdienst geleitet, die Vorläuferorganisation der besser bekannten «P-26». Er trug die Decknamen «Lord» und «Henry».

Mein Grossvati in einer James-Bond-Geschichte? Nicht als Agent im Feld, sondern als Strippenzieher, als graue Eminenz hinter geheimen Widerstandsvorbereitungen? Die Vorstellung war so surreal, dass ich damals nicht verstand, welche Tragweite die Geschichte hat. Auch in der Familie wurde nicht gross über seine Vergangenheit gesprochen – «das ist doch kalter Kaffee, die Vergangenheit sollten wir ruhen lassen», hörte ich mehr als nur einmal.

Doch die Vergangenheit ruht nicht. Sie schlägt Wellen – bis ins Jetzt.

Die Enttarnung der «P-26» im Jahr 1990 war einer der grössten politischen Skandale der Schweizer Geschichte. Die Zeitungen schrieben von einer «Geheimarmee», von «lautlosen Killern» und den «EMD-Spionen». Die mediale Entrüstung kannte keine Grenzen.

Erst gerade hatte die «Fichenaffäre» das Vertrauen in die Schweizer Institutionen erschüttert – Hunderttausende Personen, vor allem als «subversiv» geltende Linke, waren ohne gesetzliche Grundlage bespitzelt worden. Und nun kam auch noch eine geheime Organisation von Funkerinnen und Saboteuren ans Licht. Würde sie auch gegen innen aktiv und einen Umsturz planen, wenn die Sozialisten an die Macht kämen? So fragte die Öffentlichkeit. Man forderte Namen und Köpferollen.

Eine parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) wurde eingesetzt. Sie sollte die Widerstandsorganisationen auf ihre Verfassungsmässigkeit und politische Kontrolle überprüfen. Scharenweise mussten die Mitglieder vor der PUK antraben und aussagen. So auch Heinrich Amstutz.

Schweigen bis zum Tod

Erst 2009 entband das Parlament die ehemaligen Mitglieder von ihrer Geheimhaltungspflicht. Die historische Aufarbeitung hat sie grösstenteils rehabilitiert. Doch bis heute bleiben viele Lücken offen. Bis heute ist umstritten, ob die politische Kontrolle über die Organisation ausreichte – oder ob ihre Aktivität einem Alleingang der Militärspitze gleichkam. Wichtige Akten sind verschwunden. Entscheidungsträger nahmen ihre Geschichte mit ins Grab.

Viele ehemalige Mitglieder haben nach den Ereignissen von 1990 das Vertrauen in die Medien verloren. Auch Heinrich Amstutz hat geschwiegen – bis zu seinem Tod. Dies ist der Versuch, eine der Lücken zu füllen. Dies ist die Geschichte, die Heinrich Amstutz nie erzählt hat.

Am 21. Mai 1924 wurde Heinrich Rudolf Amstutz in eine gutbürgerliche Familie geboren. Als mittleres von fünf Kindern wuchs er in Olten auf. Sprache faszinierte ihn von klein auf, besonders die englische, die «language of poets» oder «Sprache der Dichter», wie Heinrich zu sagen pflegte. Nichts ging ihm über Shakespeare.

Doch es gab noch eine Leidenschaft, die ebenso stark in ihm brannte: die Liebe zu den Pferden. Schon während des Studiums – Anglistik an der Universität Zürich – gab er jeden Rappen fürs Reiten aus. Er liebte die Bewegung in der freien Natur.

Als Anglist hätte Heinrich Amstutz Lehrer oder Journalist werden können, doch Schulstube und Büro waren ihm zu eng. Also wählte er die Armee. Nur wenige Wochen nach der Promotion trat er den Dienst als Instruktionsoffizier an, als Ausbildner von Armeekaderleuten. Es war die erste Stufe auf der militärischen Karriereleiter. Hier, in der Armee, sah Heinrich Amstutz seine Berufung.

Eine Familie hatte in diesem Lebensplan keinen Platz – eigentlich.

Die Sowjetunion, eine Bedrohung für ganz Europa?

Es war die Zeit des Kalten Krieges. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Kriegsbestie nicht gezähmt, sondern nur betäubt. Doch je länger sie schlief, umso wilder würde sie beim Erwachen wüten, so die weit verbreitete Meinung. Viele hielten einen dritten Weltkrieg für unvermeidlich. Die Sowjetunion und der Westen, Kommunismus und Kapitalismus, standen sich in einer unerbittlichen Front gegenüber. Über allem drohte eine nukleare Eskalation.

Auch in der Schweiz sah man die kommunistische Ideologie als Gefahr. Man glaubte, sie ziele auf eine Weltrevolution. Zudem war die Sowjetunion den westeuropäischen Staaten damals militärisch massiv überlegen. Sollte die Kriegsbestie – gewollt oder ungewollt – wieder erwachen, war die vollständige Besetzung Europas durch Russland ein realistisches Szenario. Auch für den Bundesrat.

Dann kam 1956, das Jahr des ungarischen Volksaufstandes. Das kleine Ungarn erhob sich für seine Freiheit gegen den sowjetischen Riesen. Der Aufstand wurde gewaltsam niedergeschlagen. Dies erzeugte in der Schweiz eine Welle der Solidarität und des reaktiven Antikommunismus, der in eine neue Wehrbegeisterung mündete.

Es war in diesem politischen Klima, als Mitte der 50er-Jahre viele europäische Staaten mit dem Aufbau von Widerstandsorganisationen begannen. So auch die Schweiz.

Getarnte Waffen und geheime Budgetposten

Falls die Schweiz durch eine feindliche Macht besetzt würde, also militärisch geschlagen wäre, müsste der Spezialdienst den Widerstand aufrechterhalten. Ein Netz von Mitgliedern erstreckte sich über die ganze Schweiz. In Friedenszeiten schlummerten sie, doch im Besetzungsfall würden sie alle aktiviert.

Dann sollten sie die feindliche Propaganda bekämpfen, etwa durch Untergrundpresse und -radio, Gefangene befreien und verstecken, die Armeespitze mit Informationen über den Feind versorgen und wichtige Infrastruktur des Feindes sabotieren.

Die Spezialdienst-Mitglieder waren in Friedenszeiten unbewaffnet. Doch für den Ernstfall wurden mehrere Spezialanfertigungen entwickelt: Es gab Prototypen einer Selbstladepistole, einer Maschinenpistole und einer Einzelschusswaffe, die als kleiner Regenschirm oder als Schreibmappe getarnt waren.

Das Geld für die Spezialdienst-Aktivitäten kam aus der Bundeskasse. Zur Zeit von Heinrich Amstutz waren es knapp 200 000 Franken pro Jahr. Damit die Organisation nicht aufflog, waren die Gelder in einem speziellen Budgetposten des Oberkriegskommissariats versteckt.

Wie sich die Mitglieder koordinierten, was sie taten, wer sie waren: All dies musste geheim bleiben, sonst hätte auch der Feind davon erfahren. Für alle Mitglieder und Mitwisser galt strengste Geheimhaltung.


Mehr zur Nachfolgeorganisation des Spezialdienstes, zur «P-26», erfahren Sie im Video über das Zentrallager im aargauischen Rüfenach. Wie die Mitglieder rekrutiert wurden und warum sie während der Ausbildung manchmal Sturmhauben trugen.


Ein Leben mit vielen Abschieden

Man schrieb das Jahr 1956, als Rosemarie Schaufelbühl endgültig und unumkehrbar in Heinrichs Leben trat. Am Taufbecken eines gemeinsamen Gottenkindes hatten sie sich kennengelernt. Und nun traf man sich erneut im Familienkreis, wieder eine Taufe. Der Offizier mit strenger Haltung gefiel Rosemarie. Sie verwickelte den wortkargen Heinrich in ein Gespräch. Sie hätten viele Gemeinsamkeiten entdeckt, erzählt Rosemarie über 65 Jahre später – die Liebe zu Pferden und Hunden, aber auch den tiefen Glauben an Gott.

Einen Sommer und viele Briefe später, auf einem Spaziergang am Ufer des Greifensees, fragte Heinrich Rosemarie um ihre Hand. Sie müsse wissen, es werde ein Leben mit vielen Abschieden: Als Berufsmilitär sei er oft unterwegs, auch fern der Familie. Das schreckte sie nicht ab. Viel wichtiger war Rosemarie, dass ihr Mann ihr «intellektuell gewachsen oder überlegen» sei, wie sie selbst sagt.

Zugleich erfüllte Rosemarie mit der Verlobung ein Gelübde, das sie als Mädchen auf einer Wallfahrt in Lourdes abgelegt hatte: Sie würde nur einen Mann heiraten, der ebenso gläubig wäre wie sie. Und das war Heinrich.

Am 12. September 1957 heirateten Rosemarie Schaufelbühl und Heinrich Amstutz. Neun Monate und elf Tage später kam ihr Sohn auf die Welt. Der erste von vier Söhnen und zwei Töchtern.

Heinrich und Rosemarie Amstutz in ihrem Zuhause in Buchs AG, Sommer 1974.
(Quelle: privates Fotoalbum)

Heinrich sagt Ja zum Spezialdienst – aus Pflichtgefühl

Juni 1969. Erst seit einigen Monaten war Heinrich Amstutz Taktiklehrer an der Infanterie-Offiziersschule in Zürich. Doch dann kam die Nachricht: Der «Waffenchef persönlich» wolle ihn sehen, wie Heinrich in seinem Tagebuch festhielt, und reiste dafür an einem Samstag extra nach Zürich. Der damals 45-jährige Heinrich war in Ungewissheit über seine Zukunft, er hoffte, ja erwartete, er werde zum Schulkommandanten ernannt.

Doch der Waffenchef hatte eine andere Aufgabe für ihn: eine Abkommandierung, vorerst für drei Jahre, an die Generalstabsabteilung, als Chef des Spezialdienstes. Heinrich Amstutz, der sich unter seiner neuen Aufgabe nichts vorstellen konnte, sagte: «Zu Befehl.»

Am 24. Juni 1969 schreibt Heinrich im Tagebuch über seine neue Aufgabe: «Austragen muss ich es nun selber und allein.»

In den folgenden Wochen schrieb Heinrich wenig ins Tagebuch. Er haderte und kämpfte mit «fehlender Arbeitslust». Eines Morgens im August entschloss er sich «in höchster innerer Not» zu einer Wallfahrt nach Einsiedeln und beichtete seine «Sorgen, Bedenken und Schwächen». Er muss eine grosse Einsamkeit gefühlt haben: «Niemand weiss davon, nicht einmal Rosemarie.» Am 1. Oktober tritt er den Dienst an.

Frühmorgens, meist um 6 Uhr, stieg Heinrich Amstutz in seinen Dienstwagen, einen weissen Mercedes. Immer höchst korrekt gekleidet, im Anzug mit Krawatte. Vom Einfamilienhaus im aargauischen Buchs, dessen Garten er so liebte, fuhr er nach Bern. Das Büro lag an der Thunstrasse 22, im Kirchenfeld-Quartier.

In diesem Gebäude an der Thunstrasse 22 in Bern war das Büro des Spezialdienstes untergebracht. (Aufnahme vom 12. November 2022)

Zehn bis vierzehn Männer gehörten zum «Stab Amstutz», darunter Prominente wie der spätere Bundesrat Alphons Egli. Noch lange, nachdem es den Spezialdienst nicht mehr gab, traf sich die Gruppe jährlich zum Abendessen, wie sich Rosemarie Amstutz erinnert.

Einer von wenigen, wenn nicht der letzte noch lebende Mitarbeiter aus jener Zeit ist H.T.L. (Name der Redaktion bekannt). Heinrich Amstutz holte ihn als Funker in den Spezialdienst. Am Telefon erzählt der heute 98-Jährige: «Im Büro an der Thunstrasse stand der Zigarettenrauch so dicht, dass man einander kaum sah. Als Nichtraucher hielt ich es kaum darin aus.»

H.T.L. und Heinrich, die den Jahrgang 1924 teilten, kannten sich aus dem Anglistik-Studium. Manchmal sassen sie in der Vorlesung nebeneinander. «Ich mochte ihn gut leiden, er war ein anständiger Mensch – diszipliniert und prinzipientreu», erzählt H.T.L. am Telefon. Es entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft zwischen den beiden Männern. Regelmässig verbrachte das Ehepaar Amstutz eine Ferienwoche im Chalet auf Les Pléiades, wo der 98-Jährige noch heute lebt.

Der erste «MI6»-Ausbildungskurs

Es ist zweifellos kein Zufall, dass England-Liebhaber Amstutz den Posten als Spezialdienst-Chef bekam. Die Schweizer Widerstandskämpfer brauchten eine professionelle Ausbildung, und man wollte diesbezüglich mit England zusammenarbeiten. Heinrich Amstutz sollte mit den Engländern über die Bedingungen verhandeln – er tat dies mit Erfolg.

Mindestens zweimal reiste Heinrich Amstutz danach für einen Ausbildungskurs nach England. Erstmals im März 1971. Für ihn, der schon zig Male in England gewesen war, sollte diese Reise anders werden als alle vorherigen:

«Der kommende Aufenthalt wird weniger sorglos und unbelastet sein; ich gehe unter der Verantwortung für eine ganze Equipe, unter dem Siegel der Verschwiegenheit.»

Nach der Landung in London Heathrow wurde die Gruppe aus Spezialdienst-Kaderleuten vom Schweizer Militärattaché empfangen. Es wechselten sich geschäftliche Treffen mit gesellschaftlichen Anlässen ab; so besuchten die Spezialdienstler mit ihren englischen Gastgebern auch einen Fussballmatch des Londoner FC Chelsea und ein Konzert in der Royal Festival Hall.

Von London reiste die Gruppe weiter an die englische Südküste, ins Fort Monckton. Auf einer Halbinsel erhebt sich das historische Fort in die Luft, durch das Meer auf zwei Seiten geschützt vor Angriffen. Es war die Trainingsbasis des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6, und hier wurden auch die Schweizer Widerstandskämpfer ausgebildet – «von erfahrenen Routiniers und hochintelligenten Offizieren», wie Heinrich Amstutz im Tagebuch festhält.

Das Training beinhaltete unter anderem Schiessen und Sprengen, Chiffrieren und Funken sowie konspiratives Verhalten – also zum Beispiel, wie man unauffällig Unbekannte trifft oder über tote Briefkästen kommuniziert. «Wir arbeiten jeden Abend bis 22 Uhr», schreibt Heinrich ins Tagebuch. Details darf er nicht festhalten, doch er berichtet von mehreren Nachtübungen, im Helikopter, zu Fuss und zu Wasser.

Zerquetscht von der Last der Verantwortung

Es ist schwer vorstellbar, unter welchem immensen Druck Heinrich Amstutz damals stand. Wie er sich jeden Tag beherrschen musste, um nichts zu verraten. Nicht einmal seiner Rosemarie konnte er sich vollends anvertrauen. Ich stehe im Wohnzimmer meiner Grosseltern, vor mir der massive Schreibtisch, an dem Grossvati immer sass, wenn er Tagebuch schrieb. Das Tagebuch, seine weltliche Zuflucht und Vermächtnis zugleich.

Von diesem Schreibtisch aus verfasste mein Grossvater die Tagebucheinträge.

Ich stelle mir vor, wie er hier sitzt – voller Sorge, ob die Sowjets kommen. Wie er einen Anruf erhält: «Die Russen stehen an der Grenze. Wir haben drei Tage, um uns vorzubereiten.» Ich stelle mir vor, wie er Gott um Hilfe anruft. Wie er veranlasst, dass in der Radio-DRS-Morgensendung mit Ueli Beck und Elisabeth Schnell die verschlüsselte Nachricht gesendet wird, um die Mitglieder zu aktivieren: die geheimen Funker, die untergetauchten Saboteurinnen.

Wenn die Soldaten zu Tausenden gefallen, die Gotthardfestungen eingenommen, die Schweiz von Kriegsverbrechen versehrt worden wäre: Es wäre an meinem Grossvater und seinen Mitstreitern gelegen, all dem etwas entgegenzusetzen.

Warum genau Heinrich Amstutz als Spezialdienst-Chef ausgewählt wurde, lässt sich historisch kaum mehr rekonstruieren. In der Familie wird aber vor allem zweierlei genannt: seine Sprachkenntnisse in Englisch und Französisch sowie seine Prinzipientreue. «Weder Geld noch Prestige interessierten ihn», sagt einer seiner Söhne. Als Kompass dienten ihm seine religiösen Überzeugungen. Dies habe ihn unbestechlich gemacht.

An der Spitze einer geheimen Widerstandsorganisation stehen und zugleich als sechsfacher Familienvater präsent sein: ein fast unmöglicher Spagat unter tonnenschwerer Verantwortung. So wollte Heinrich Amstutz manchmal nur noch ruhen, fliehen, vergessen. Aus den Tagebüchern spricht immer wieder eine wehmütige Sehnsucht nach der Familie, nach dem Zusammensein mit Frau und Kindern. Dort hoffte Heinrich, Erholung und Frieden zu finden. Doch oft wurde er enttäuscht.

Im Februar 1970 bezog Heinrich eine Ferienwoche, eine willkommene Pause von der neuen Aufgabe im Spezialdienst. Er freute sich auf mehrere Tage ausgefüllt mit Lesen, Schreiben und Beten, auf «Ordnung, Wärme, Ruhe und Sauberkeit». Doch «es ist wieder einmal anders gekommen, als ich es gerne gehabt hätte», steht im Tagebuch:

«Wenn alle Kinder zuhause sind, wird man in einen Strudel kleiner Ereignisse hineingerissen, aus dem man sich erst wieder befreien kann, wenn die Kinder schlafen. Dann aber ist man zu müde, um noch etwas anzufangen.»

Als Rosemarie das Schlimmste befürchtete

Rosemarie war für ihren Mann immer Hafen und Anker. Oft alleine mit den sechs Kindern, unterstützt von einem «Hausmädchen», war sie auch bei der Erziehung meist auf sich gestellt. Sie trug es klaglos. Auch, weil sie um die Bürden Heinrichs wusste, um den Druck, der stets auf ihm lastete.

Es gab nur eine Phase, in der sie alles in Frage stellte. «Ich hatte schon lange gemerkt, dass er mir etwas verschwieg», erinnert sich Rosemarie. Wochenlang habe er kaum mit ihr gesprochen. «Ich malte mir das Schlimmste aus. Ich fragte mich, ob es eine andere Frau gibt.»

Eines Nachts, bei einem Glas Rotwein, brach es aus ihm heraus. Er leite eine geheime Widerstandsorganisation, es gebe Pläne, den Bundesrat im Ernstfall ausser Landes zu schaffen. Alles sei höchst geheim. Rosemarie verstand. Von da an stellte sie keine Fragen mehr.

Viele Jahre später wird Rosemarie sagen: «Eigentlich wusste ich viel mehr, als ich hätte wissen sollen. Aber es ging nicht anders. In einer Beziehung wie der unsrigen, in der man Bürden gemeinsam trägt, ging es nicht anders.»

Rosemarie Amstutz war in groben Zügen über die geheime Widerstandsorganisation informiert, die ihr Ehemann Heinrich leitete.

Wer Folterqualen standhält

In den Tagebüchern sind nur wenige Hinweise zu finden, worauf sich Heinrich und seine Mitstreiter einliessen. Doch es gibt diese eine Passage vom 12. Oktober 1975, mit der Heinrich einen Einblick in sein Herz gewährt, in die unglaublichen Fragen, mit denen er sich beschäftigen musste – etwa, welche Art von Menschen einer Folter am längsten standhalten würde.

«Es gibt zwei Arten, eine Funktion wie die meinige auszuüben; entweder seine Leute zu führen durch Vertrauen und Offenheit […]; oder, getrieben von Ehrgeiz, nach vorgefasstem Plan die Leute so lange zu brauchen, als sie diesem Plane nützlich sind, und dann sie beiseite zu schieben […]

Auf die erste Art wird ein warmes persönliches Verhältnis mit allen Leuten langsam entstehen können; aber auch Schlangen werden an der eigenen Brust genährt. Auf die zweite Art werden zuletzt nur noch die Leute einer bestimmten Kategorie übrigbleiben: tüchtig, aktiv, verschlagen.

Werden wir auf sie zählen können, wenn es um den Einsatz des Lebens, ja, mehr, um das Erdulden von Folterqualen und um leidensvolles langsames Absterben geht? Heute rechnet man brutal, dass nach drei Tagen jeder Mensch versagen wird und bereit ist zum Verrat.

Trotzdem würde ich immer wieder die erste Art wählen, auch in Konstellationen, in denen die höchsten Vorgesetzten anderer Meinung sind. Ich würde die Konsequenzen tragen.»

Wohl wäre Heinrich Amstutz bereit gewesen, für seine Prinzipien zu sterben. Doch er hatte auch eine andere, dunklere Seite. Vielleicht verstärkt durch die Last der Verantwortung, die ihn manchmal zu erdrücken drohte. Ein Sohn erinnert sich: «Niemand konnte seinen Ansprüchen gerecht werden. Die einfachen Bedürfnisse der Menschen, besonders auch der Kinder, waren ihm fremd.»

Die Fotos zeigen Heinrich Amstutz im Alter von 47 Jahren, als er seit zwei Jahren Spezialdienst-Chef war. (Quelle: privates Fotoalbum)

In der Familie unvergessen bleibt eine Episode, heute wird sie anekdotisch erzählt, aber sie hat sich in die Erinnerung eingebrannt: Um seine Kinder zur Ordnung zu erziehen, führte Heinrich militärische Zimmerkontrollen durch. Sogar in den Schränken: Da mussten die Spielzeugautos in der richtigen Schublade versorgt sein, in Reih und Glied dastehen, nach Farben sortiert.

Wenn die Kinder ihre Schulzeugnisse nach Hause brachten, notierte er im Tagebuch in einer Rangliste, wie zufriedenstellend ihre Leistungen waren. Das Menschliche, das Unvollkommene, das Schwache: Es war Heinrich Amstutz lästig.

Manchmal war in ihm Ebbe, manchmal Flut

So streng er mit anderen war, mit sich selbst war er noch strenger. Es gab Wochen, in denen seine Welt dunkler wurde. Tagsüber konnte er sich nicht zum Arbeiten bringen, in der Nacht quälten ihn heftige Selbstzweifel. In solchen Zeiten «innerer Not», wie er es selbst nannte, suchte er Halt bei Gott. Im Gebet, am Grab von Mutter Maria Theresia Scherer in Ingenbohl, oder einmal, als alles andere nichts half, auf einer Wallfahrt im Kloster Einsiedeln.

Ebbe und Flut: Mit dieser Metapher beschrieb Heinrich Amstutz seine wechselnden Gemütszustände. Auf acht helle Monate folgten drei düstere, in denen «die Freude auf einige wenige schimmernde Stunden» beschränkt ist, wie Heinrich am 14. Januar 1991 schreibt. «Was ist dies nun: Schicksal, Veranlagung, Schwäche, Heimsuchung, Zurechtweisung von jenseits des Bewusstseins?»

Als «heilsam» bezeichnet er die düsteren Wochen, gegen einen «Hochmut», der sonst zu stark wachsen würde. Er sah in den Phasen der Niedergeschlagenheit die «Hand Gottes, die mich darnieder hält, damit ich wieder zur Einsicht komme, ein schwacher Mensch zu sein».

Wenn sich Rosemarie erinnert, wie sich die Phasen der Depression damals zeigten, dann nennt sie vor allem eines. «Er rief über Mittag an. Das tat er nur, wenn es ihm gar nicht gut ging.» Er habe dann ein bisschen erzählt und gefragt, ob zu Hause alles in Ordnung sei. Sie filterte die Nachrichten von der Familie, nur «Good News», alles andere konnte bis zum Wochenende warten, wenn er wieder nach Hause käme. Rosemarie versuchte, die Gespräche kurz zu halten, denn sie kamen ihr ungelegen. Meist sass die Familie gerade am Mittagstisch: eine Stunde Zeit, sechs hungrige Kinder.

Wo nur ist sein Platz in der Welt?

Wie immer bei grossen Veränderungen musste auch die Zeit im Spezialdienst für Heinrich Amstutz in einer Krise enden. 1975 wurde er abgesetzt, Ende Jahr sollte er seinen Posten verlassen. Die Gründe für die Absetzung lassen sich nicht mehr eindeutig bestimmen. Für Heinrich war es ein harter Schlag:

«Ich habe durch zahlreiche Niederlagen zu einer inneren Bescheidenheit gefunden. Nicht, wie früher, nach aussen Scheu und nach innen Überheblichkeit. [Ich bin] zum kniefälligen Bittsteller und täglichen Anrufer der göttlichen Hilfe geworden.»

Mit 51 Jahren musste er sich noch einmal neu erfinden. Zwar konnte er sich später als Kommandant der Trainschule St. Luzisteig noch einen lange gehegten Traum erfüllen. Doch zunächst kämpfte er mit dem Abschied aus dem Spezialdienst – mit dem dumpfen Gefühl, beiseitegeschoben zu werden, Platz machen zu müssen für einen jüngeren, vielleicht moderneren Mann.

«Die Ziele, nach denen ich gestrebt hatte: Die wenigsten habe ich erreicht. Die Anliegen, die ich den Mitmenschen hatte bewusst machen wollen: Sie werden entweder nicht anerkannt oder als Rückschritt abgetan.»

Es ist ein Umstand, an dem Heinrich Amstutz sein Leben lang litt. «Er war in der falschen Zeit geboren», drückt es einer seiner Söhne aus. Seine konservative und militärische Art, seine religiösen Prinzipien seien «aus der Zeit gefallen».
So steht Heinrich Amstutz symbolisch für seine Organisation. Bei der Enttarnung 1990 waren auch «P-26» und Spezialdienst aus der Zeit gefallen.

Die Sowjetunion war aufgelöst, die Berliner Mauer gefallen, der Kommunismus am Boden – die Bedrohung des Kalten Krieges war in weite Ferne gerückt. Niemand verstand mehr, wie man eine geheime Widerstandsorganisation je für nötig halten konnte. Es ist einer der Hauptgründe, warum die Empörung damals so gross war – vielleicht grösser als heute, da in Europa wieder Krieg herrscht.

27 Tagebücher – ein Lebenswerk

Heinrich Amstutz sah es immer als seine Berufung, etwas Bleibendes in dieser Welt zu hinterlassen. Ein Lebenswerk für sein Vaterland und zu Ehren Gottes. Wie musste er sich fühlen, als ein Teil dieses Werkes in Trümmern lag, in Schande gezogen wurde? Er reagierte, indem er ein zweites Lebenswerk verfolgte: ein Buch zu schreiben.

Dieses Buch hat er zwar nie vollendet. Doch auch die Tagebücher sind ein Lebenswerk. Die 27 Bände erzählen fast das ganze Leben meines Grossvaters, zeichnen ein authentisches Bild seiner Persönlichkeit, Gedanken und Gefühle. Mehr noch: Heute sind sie ein zeithistorisches Dokument.

Einige der Tagebücher von Heinrich Amstutz – sie sind sein Vermächtnis für die Familie und ein zeithistorisches Dokument.

Dennoch gibt es so viele Fragen, die unbeantwortet bleiben; so vieles, worüber ich gerne mit Grossvati gesprochen hätte. Was ihm die Schweiz bedeutet. Wie er die heutige Armee beurteilt. Wo er Fehler begangen hat, was er im Rückblick anders machen würde. Was seine grössten Erfolge waren, worauf er stolz ist. Und was er im Ernstfall getan hätte, wenn er für die Pflicht seine Familie hätte verlassen müssen.


Quellenhinweis: Bezüglich der historischen Fakten stützt sich diese Arbeit, wo nicht anders vermerkt, auf die Dissertation von Titus Meier: «Widerstandsvorbereitungen für den Besetzungsfall. Die Schweiz im Kalten Krieg», erschienen 2018 im NZZ Libro Verlag.


Rosemarie Amstutz ist am 12. Februar 2023 verstorben. In grosser Dankbarkeit für ihre Offenheit und Unterstützung.